Reinstoff (Mitte)

Diese Neueröffnung hat mich doch tatsächlich komplett vom Hocker gerissen.

Frische regionale Zutaten werden mit modernen Küchentechniken kreativ, ungewöhnlich, hochinspiriert und bildhübsch auf den Teller des Gastes gebracht. Flankiert von klasse Bestecken.

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Bis hierhin habe ich den Begriff „Molekular“ vermieden.

Warum eigentlich? Nur weil angegraute und angestaubte Topfexperten der 1970er Jahre abwehrend die träge gewordenen Hände und Köpfe schütteln? Meilenweit hinkt Deutschland den internationalen Küchenentwicklungen hinterher, die neugierig, spielerisch und phantasievoll mit den Verfahren hantieren, welche Ferran Adria zum besten Koch der Welt gemacht haben.

Im Reinstoff besitzt die junge Truppe den nötigen Mut.

Durchhaltevermögen hat man bereits bewiesen, indem man als Sieger aus dem Businessplan- wettbewerb hervorgegangen ist. (Aber nichtmal das wird bei Finanzierungsgesprächen mit Banken ein Trumpf gewesen sein, wenn mich meine Erfahrung als Selbstständiger nicht trügt.)

Das Konzept der Speisekarte ist zweischneidig. „ganz nah“ oder „weiter draußen“ ist die primäre Entscheidung, die der Kunde zu treffen hat, je nach experimenteller Neugierde. Ein wenig erinnert es mich an Tim Raues Kartenkonzept zu 44er-Zeiten, als „Tradition“ und „Evolution“ einander gegenüber standen.

dsc02051Im Reinstoff wird der Gast grundversorgt mit einigen spannenden Vorabgängen und diversen süßen Danachgängen. Die Auswahl der Hauptgänge wird dem Besucher höchstselbst aufgebürdet. (Drei Gänge zu 38.- Euro, acht Gänge zu 98.-)

Die Kombinationen sind vielversprechend: Entenlebereis, Apfelsalat und Honigcroutons; Scampi und Schinkenbaguette; Gänseleber, marinierte Teltower Rübchen und Quitte; Brandenburger Kaninchen mit Sellerie und Lakritze….

Dazu sorgt eine famose Weinberatung für eine maximale Verknappung der finanziellen Ressourcen. Mein Tipp: Eine Flasche bestellen (vorzügliche deutsche, aber auch spanische Gewächse sind zu o.k.-Preisen vorhanden) und bei Sätzen wie: „Ich hätte da einen großartigen Süsswein, der hervorragend passen würde…“ widerstehen. Sonst wird es echt teuer. dsc02054

Die Halle in den Edison-Höfen nahe der Grenze von Mitte zum Wedding ist ganz ungewöhnlich ausgestattet und designt. Vom Sitzmöbel bis zum Besteck ist alles irgendwie anders, irgendwie aufregend. Zur Wohlfühlatmosphäre tragen auch die Betreiber bei, die unaufgeregt, locker und dennoch mit Kompetenz den Genussverkehr regeln.

Wir lachen, plaudern, fachsimpeln. Gemeinsam mit dem Sommelier, den Servierkräften. So stelle ich mir dining und enjoying im aktuellen Jahrtausend vor. Alleine der Küchenchef, Herr Achilles, wirkt ein wenig zurückgenommen und scheu.

dsc02056Ich persönlich bin schon ganz begierig auf die nächsten Menüs, die neuen Experimente dieses fähigen und sympatischen Teams.

Bald will ich wieder einkehren. In Kürze wieder gaumentechnisch überrascht werden.

Wir haben es hier mit einem neuen Stern am oft nebeligen Berliner Gastro-Himmel zu tun. Michelin hin oder her.

A star is….definitely awaiting my fork and spoon!

Schlegelstrasse 26c, Edisonhöfe-Mitte (Einfahrt Invalidenstrasse) 10115 Berlin

http://www.reinstoff.eu

7 Kommentare zu “Reinstoff (Mitte)

  1. vilmoskörte sagt:

    Und nun gibt es den Molekular-Kochset für den Hobbykoch. Ausführlicher Erlebnisbericht bei http://www.heise.de/tr/artikel/Kochen-fuer-Geeks-889833.html.

  2. eichiberlin sagt:

    Ich fürchte die Provinzler. Auch wenn sie Geschenke bringen.

    Meine Karriere als Food-Fotograf werfe ich nun zerknirscht über den Haufen.
    Lustiger Zufall: Gerade erreicht mich die Nachricht über das Ostermenü im Reinstoff mit Bild im pdf. Na, wovon wohl. Professionell fotografierte Gurken/Quallenaugen sind einsehbar unter:
    http://www.reinstoff.eu/svmanager/g1/

  3. 6kraska6 sagt:

    Ist Dir eigentlich klar, wie sehr Du Provinzler mit giftgrünem Neid erfüllst? Warnung: Wir Provinzler sind viele!
    Irgendwann kommen wir und werden Eure Dekadenz durch gnadenlos vandalisches Wegfuttern rächen….!

    @vilmos: Dem Auge (ja, ja, es ißt mit…, klaro) würde ich in diesem Falle nicht trauen…

  4. eichiberlin sagt:

    Nichts ist, was es scheint. Das ist eben so interessant.
    Oft erscheint ein Gericht nur erstrebenswert, weil wir die Zutaten als exquisit identifizieren und assoziieren können oder wollen. (Beispiele wären Hummer oder Kaviar). Molekular ist eben anders und nicht spontan zu kategorisieren.
    Bei den „Quallenaugen“ handelt es sich übrigens um sphärische Spreewaldgurken.
    Und eine Spreewaldgurke, lieber vilmoskörte, ist doch nicht zu verachten, oder?

  5. vilmoskörte sagt:

    Das mit den Fotos in diesem Bericht ist so eine Sache. Ich find sie ja eher abtörnend und so gar nicht geschäftsfördernd. Quallenaugen auf chinesischen Reislöffeln? Die würd ich noch nicht mal essen wollen, wenn man mich dafür bezahlt. Sorry für den harten Kommentar, ohne Fotos wär’s bei mir sicher besser angekommen.

    Aber Teltower Rübchen im April? Das sind wahrscheinlich keine.

  6. oachkatz sagt:

    Du bekommst es tatsächlich noch hin, und weckst bei mir ein Interesse, das mein zwar angegrautes, aber nicht angestaubtes Haupt bisher sich zu entwickeln weigerte.

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